Aus dem WILD UND HUND-Testrevier
Morgenstund
Ende Juli gehen im Testrevier die mehrjährigen Rehböcke auf. Heiko Hornung war zum Frühansitz im Revier, bei dem so gar nichts gelingen wollte, bis ein roter Fleck ihn beim Heimgehen noch einmal das Glas hochnehmen ließ.

Bild: Sven-Erik Arndt
Ohne, dass etwas abspringt, erreiche ich den Dreiecksschirm unter einer tiefbeasteten Fichte und richte mich ein. Nach einer Viertelstunde lasse ich in das dämmrig-schläfrige Grau des Morgens ein paar Blattarien ertönen. Doch weder Vogelschlag noch sonst irgendetwas verrät mir einen heranziehenden Hochzeiter. Nun, es ist auch noch etwas früh zum Blatten, denn die Böcke sind noch reichlich beschäftigt, wie ich die beiden Morgen zuvor feststellen konnte. Eine weitere halbe Stunde später fängt im Grund der Wind das Tanzen an. „Es hat keinen Sinn, die Luft zu verpesten“, denke ich mir, rolle den Sitzfilz ein, nehme den Rucksack auf und will noch ein paar Meter dem Wind entgegen den Talgrund hochpirschen. Als ich nahe der Mühle an einer Weide vorbeischleiche, betrachten mich 2 Esel interessiert. Sie sind die Lieblinge des Müllers. Ich habe sie gerade passiert, als die Stute das Jaulen anfängt. Ich verdrehe die Augen und merke dabei, dass mich nicht nur der Esel anstarrt, sondern auch ein gut aufhabender Bock, der grade im Begriff war, auszutreten. Er macht sich flüchtend nicht die Mühe zu schrecken, aber ich weiß, dass weiterschleichen keinen Sinn mehr macht, wenn der Gesuchte sich gerade flüchtig abgesetzt hat.
Zum Auto zurückgekehrt, blicke ich auf die Uhr. Eigentlich noch ein bisschen früh zum Heimgehen. Zur Mühle führt noch ein zweiter Grund. In den will ich noch einen Blick hineinwerfen. Am Rand einer Ödfläche schleiche ich zu einem Weidenbusch, von wo ich Waldrand und Wiese in der Senke gut einsehen kann. Mit dem Glas vor Augen buchstabiere ich die Auswechsel. Nichts. Als ich wende, um zurückzupirschen, blicke ich auf 20 Schritt in die bernsteinfarbenen, weit aufgerissenen Seher eines Jungfuchses, dessen Herannahen ich in meinem Rücken überhaupt nicht bemerkt habe. Beide sind wir über die morgendliche Begegnung erschrocken, wobei Reineke schneller als ich die Fassung wiedererlangt und mit aufgestellter Standarte in den nahen Rapsschlag flüchtet. „Jetzt reicht‘s“, denke ich und will den Heimweg antreten, wo mich eine duftende Tasse Kaffee und ein Marmeladenbrot erwarten.

Ich schlendere Richtung Mühle, als mein Blick auf eine Stoppel im Hang über mir fällt. Das Feld wird durch einen Rapsschlag, eine Streuobstwiese und eine Hecke eingerahmt. An der Hecke entlang führt der geteerte Weg zur Mühle. An diese grenzt wiederum ein abgeernteter Roggenschlag, an den wiederum eine kleine Pferdekoppel und des Mühlenwäldchen anschließen, das eigentlich kein Wäldchen mehr ist, weil die Fichten der Borkenkäfer gefressen hat und daraus eine etwa 4 ha große Wildnis aus Baumtrümmern, Brombeere, Holunder und auflaufender Naturverjüngung entstanden ist. Es steckt viel Wild darin, das man kaum in Anblick bekommt, da kein Weg und kein Steg hindurchführen.
Auf der eingerahmten Stoppel fällt mir ein roter Fleck auf rund 300 m ins Auge. Der Feldstecher zeigt ein Reh, das suchend über das abgeerntete Feld zieht. Als das Stück aufwirft, ist es mir, als würde Strom in meinen Körper fahren. Denn ich erkenne einen gut aufhabenden Sechser, mit starkem Träger, der offenbar solo auf Brautschau ist.
Den muss ich mir näher ansehen. Also nehme ich die Beine in die Hand und eile den Teerweg hoch, um im Schutz der Hecke an den Bock heranzukommen. Sollte dieser die Richtung halten, müsste er durch die Hecke wechseln, und ich hätte die Chance, ihn auf der Stoppel vor dem Mühlenwäldchen abzupassen. Da das Sträßlein gut ansteigt, schlägt das Herz nach 200 m flotten Schrittes schon etwas heftiger. An der Pferdekoppel befindet sich ein kleiner Unterstand, und vor diesem steht ein Wasserfass, hinter dem ich mich platziere. Von hier kann ich mit guter Auflage die von mir wegführende Hecke und die Roggenstoppel mit meiner Büchse bestreichen.
Mit dem Blatter sollte es mir gelingen, den Bock mit ein paar sehnsüchtigen Tönen durch die Hecke auf das Feld vor mir zu ziehen – so der Plan. Das Gewehr sauber gebettet, fliegen kurz darauf ein paar zarte Fieper hinüber. Gespannt warte ich auf das Erscheinen des Bockes. Doch es passiert nichts. Hat er das Sehnen des Geiß nicht vernommen? Unmöglich. Auch wenn ich ihn verdeckt durch die Hecke nicht sehen kann, so kann er keine 100 m von mir weg stehen. Hat er eine andere Richtung genommen, als ich vermutete, und ist er vielleicht Richtung der Rapsschläge tiefer ins Feld gezogen? Minuten verstreichen. Ich muss durch die Hecke schleichen und sehen, ob der Gesuchte dort noch auf den Weizenstoppeln steht, gebe meine sichere Stellung auf, stehe gerade frei und ohne Deckung auf der Straße, als der Sechser plötzlich keine 30 Schritt vor mir durch die Hecke taucht. „Verdammt!“ Ich bewege kein Haar. Senke den Blick, damit er das helle Gesicht nicht sieht, und hoffe inständig, dass er meine Silhouette nicht wahrnimmt. Der Bock sichert fadengrad zu mir her, senkt den Windfang Richtung Boden und trollt auf die Roggenstoppel. Wäre ich noch bei meinem Wasserfass, wäre der Schuss jetzt ein leichter. Doch so habe ich nur den Pirschstock als Zielhilfe, und der ist inklusive des einsetzenden Jagdfiebers eine wackelige Geschichte. Schnell bringt der massige Bock, den ich noch nie in Anblick hatte, Abstand zwischen uns. Dieser Bock ist reif, das ist mir klar. Vorsichtig gleitet der Repetierer unter dem Arm hindurch in den Anschlag am Pirschstock.
Am Rand des Mühlenwäldchens, auf rund 80 Gänge, verhofft der Sechser mit der guten Vereckung. Das Absehen tanzt auf dem Begehrten hin und her. „Himmelsakra – so wird das nichts!“, und drin ist er. Enttäuscht starre ich dorthin, wo er verschwand. In einer kleinen Lücke im Bestand wird er plötzlich noch einmal sichtbar. Dort fegt und plätzt er vor lauter Wut, dass er das fiepende Weib nicht fand. Er steht fast breit. Noch einmal hole ich Luft, fahre ins Ziel und bin fast überrascht, als der Schuss bricht. Ein mächtiger Satz in die Höhe zeigt, dass die Kugel den Gehörnten gefasst hat.
Ich sinke erst mal in die Knie, schnaufe tief aus, um auch das Körperzittern in den Griff zu bekommen. Verflixt, ausgerechnet heute liegt zuhause der Hund mit seinen Welpen in der Wurfkiste. „Wen rufe ich jetzt an?“, schießt es mir durch den Kopf. Denn in dem dichten Zeug des Mühlenwäldchens finde ich den Bock nicht einmal, wenn ich direkt vor ihm stehe. Nach einer Viertelstunde bin ich am Anschuss. Da ist Schweiß, und 10 m weiter erlöst mich ein Stück Lunge von allen Zweifeln. Ich werde ihn auch ohne Hund finden. Bald darauf kniee ich barhäuptig vor dem Gestreckten und blicke voller Dankbarkeit hinüber in den Göttersberg, wo zwischen Eichen und Kiefernwipfeln einige feine Dunstschleier wie Seelengestalten in den grauen Morgenhimmel steigen.
Autor: Heiko Hornung